Montag, März 26, 2012

Simon Gunkel: "Die Bereitschaft, nicht mehr zu funktionieren, geht der tatsächlichen Befreiung voraus"

Das folgende Interview mit dem Transgender-Aktivisten Simon Gunkel ist – leicht gekürzt – meinem Buch "Männerbeben" entnommen. Im Anschluss an das gestrige Interview mit dem homosexuellen Männerrechtler Matthias Buser erscheint mir eine Neuveröffentlichung auf diesem Blog sinnvoll.

Arne Hoffmann: Simon, du stehst als Trans- bzw. Postsexueller nicht nur körperlich, sondern auch politisch zwischen bzw. über den Geschlechterfronten, was in verschiedenen Texten, die ich von dir kenne, deutlich wird. Was ist denn dein momentaner Eindruck vom Stand der Dinge, was den Geschlechterkampf angeht?

Simon Gunkel: Körperlich noch nicht mal. Ich bin weder intersexuell, noch würde ich mich als transsexuell bezeichnen. Aber ich finde es wichtig, sich für die Entpathologisierung in diesen Bereichen stark zu machen, weil da in einem Fall körperliche und seelische und im anderen Fall vor allem seelische Gewalt unter dem Vorwand der medizinischen Behandlung ausgeübt wird. Politisch würde ich sagen, ich stehe quer zu den Fronten, es ist ja immer noch eine Position zum Geschlecht, und deshalb kann sie nicht über diesen Dingen stehen. Und dazwischen ... Ich habe mal ein Lied darüber geschrieben, das mit den Zeilen "Wir reden vom dazwischen sein / als fiele uns nichts Besseres ein / uns zwischen diesen Polen zu platzieren" beginnt. "Dazwischen" impliziert immer zwei gegensätzliche Pole, und ich kann die weder im Begriffspaar "Frauen & Männer" noch in "Frauenbewegung & Männerbewegung" erkennen. Sogar selbst ernannte Hardliner sind immer auch dazwischen.

Ich habe das Gefühl, dass momentan biologistische Thesen Aufwind haben. Neue Technologien eröffnen uns Möglichkeiten zur Erforschung des Menschen, aber was in den Medien hauptsächlich stattfindet, ist ein neuer Mythos vom Geschlecht. Das hat zum einen den Effekt, dass sich die Positionen verhärten, weil es scheinbar wissenschaftliche Begründungen dafür gibt, dass Männer und Frauen unterschiedliche Zielsetzungen haben. Zum anderen sorgt es auch dafür, dass sich Vorurteile stärker ausbreiten und der Druck, sich konform dazu zu verhalten, ansteigt. Und das wiederum sorgt auf allen Seiten für das Gefühl, stärker eingeschränkt zu werden.

Arne Hoffmann: Den momentanen Trend bei Büchern und anderen Medien, Geschlechtsidentität in etlichen Aspekten biologisch zu begründen, siehst du als Naturwissenschaftler ja äußerst kritisch.

Simon Gunkel: Das Interessante an populärwissenschaftlichen Büchern ist, dass sie teilweise Dinge aufführen, die schon lange nicht mehr up-to-date sind. Der Gedanke, dass Männer und Frauen völlig unterschiedlich sind, verkauft sich gut. Letzten Endes steckt dahinter auch wieder die "Zurichtung", von der Foucault spricht.

Geschlechtsidentität ist vor allen eine Ansammlung von Dingen, von denen man gesagt bekommt, dass man sie nicht tun darf oder nicht kann: "Männer können nicht vernetzt denken", "Frauen können nicht einparken", "Männer können nicht zuhören" ... etc. Alle bekommen eine lange Liste von qua Geschlecht vorgegebenen Defiziten mit. Das kränkt das Ego. Es gibt zwei Ansätze, wieder Selbstbewusstsein aufzubauen:

1) Die "Defizite" beim anderen Geschlecht hochspielen (leider immer noch ein ordentlicher Teil von Mädchenarbeit, dieser ganze "Jungs-sind-doof"-Unsinn.) Das Problem dabei ist: Das Selbstbewusstsein ruht auf dem Fundament der angenommenen Defizite beim anderen Geschlecht. Eine Frau, die ihr Selbstwertgefühl darauf stützt, dass Männer gefühllose Arschlöcher sind, wird Männer, die tatsächlich zuhören können, ablehnen. Ein Mann, der sein Selbstwertgefühl darauf aufbaut, dass Frauen nicht Auto fahren können, wird es nicht akzeptieren können, wenn eine Frau ihren Wagen beherrscht. Man fühlt sich immer noch defizitär und will, dass das für die anderen genauso gilt.

2) Erkennen, dass die Handlungsverbote und vermeintlichen Unbegabungen gar nicht zutreffend sind. In dem Fall wird Selbstvertrauen aus eigenen Fähigkeiten statt aus den vermeintlichen Unfähigkeiten anderer gezogen. Was eben nicht dazu führt, dass man Leute ablehnt, weil sie sich nicht konform verhalten.

Eigentlich ist bei diesen Ansätzen völlig irrelevant, ob es biologische Differenzen zwischen den Geschlechtern gibt. Der zweite Ansatz birgt die Möglichkeit zu einem unantastbaren Selbstvertrauen, während der erste zu einem labilen Selbstbild führt, das erschüttert wird, wenn sich nicht alle "korrekt" verhalten.

Arne Hoffmann: Wie bist du eigentlich auf die Männerbewegung gestoßen, und warum wird sie von dir unterstützt?

Simon Gunkel: Auf die Männerbewegung bin ich durch einen guten Freund gestoßen, mit dem ich mein Abitur gemacht habe. Wir begannen zur gleichen Zeit unseren Zivildienst und waren von den gesetzlichen Regelungen ziemlich überrascht: bis zum 32. Lebensjahr das Bundesamt erst fragen müssen, wenn man für längere Zeit ins Ausland geht, Einschränkung der Grundrechte und so weiter. Er drückte mir irgendwann Paul-Hermann Gruners "Frauen und Kinder zuerst" in die Hand, womit ich nicht viel anfangen konnte - vor allem weil es da um einen Feminismus geht, den ich nicht kannte. Einige Diskussionen später lieh er mir dann "Sind Frauen bessere Menschen?", was mich in die Themen der Männerbewegung deutlich stärker hineingezogen hat, einfach weil es positiver ist als das Gruner-Buch. Es ist nicht primär gegen etwas, sondern für etwas. Zu dieser Zeit bekam ich dann auch eine Mail mit einem Link zu einem der Foren, auf denen Männerrechter schrieben (mittlerweile nicht mehr existent und eher marginal), und darüber landete ich dann bei den "Klassikern" der Forenlandschaft.

Ich weiß nicht, was ich auf die Frage antworten soll, warum ich die Männerbewegung unterstütze. Ziele wie die Abschaffung der Wehrpflicht, der Benachteiligung in der Krebsvorsorge, die fehlende Thematisierung von Männern als Opfer von Gewalt und insbesondere sexueller Gewalt und so weiter – dieser ganze Katalog von Forderungen ist eigentlich selbstverständlich unterstützenswert. Die Frage, die mich interessiert ist, warum diese Ziele nicht allgemein unterstützt werden und warum sie zumindest von Teilen derer, die sich als Männerrechtler bezeichnen, inzwischen als zweitrangiges Problem behandelt werden.

Arne Hoffmann: Welche Entwicklung beobachtest du hier?

Simon Gunkel: Wenn wir über Männerrechte reden, dann geht es um die individuelle Freiheit. Und ich sehe momentan die Tendenz, genau diese nicht zu wollen, sondern die "alte Ordnung" als verbindlichen Lebensentwurf durchzusetzen. Das Extrembeispiel war ein Unternehmer, der mal auf einem Männerbewegungsforum schrieb, er habe bisher bevorzugt Männer eingestellt, weil diese nicht in Erziehungsurlaub gehen durften – jetzt suche er nach Möglichkeiten, die Neuregelung, die Männern dies erlaubt, zu untergraben. Während ich das schreibe, wird gerade die Aktion "Coole Jungs" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geradezu verrissen, obwohl sich dessen Stoßrichtung in vielen Punkten mit den Zielvorstellung der Männerbewegung deckt. Schließlich geht es darum, dass Männer in "Frauenberufen" nicht benachteiligt oder wegen ihrer Tätigkeit herabgewürdigt werden. Sogar die von MANNdat e.V. geforderte Erweiterung des Girls’ Day zu einem "Zukunftstag für Mädchen UND Jungen" wird hier berücksichtigt, die Forderung nach der "Erweiterung der geschlechtsspezifischen Berufswahl gerade auch für Jungen" wird als Hauptvorgabe eingesetzt und ein Erzieher nennt als Antwort auf die Frage, warum er diesen Beruf ergriffen habe, er dürfe die eigenen Kinder nicht sehen (was man durchaus als ministeriellen Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Familiengerichte deuten könnte ...). Ich habe da durchaus auch private Interessen, schließlich arbeite ich in der Altenpflege, um mein Studium zu finanzieren. Dass sich jetzt sogenannte Mitstreiter dazu bemüßigt fühlen, solche Tätigkeiten abzuqualifizieren, finde ich sehr bedenklich, und das ist meiner Meinung nach auch kontraproduktiv. Schließlich wird hier gegenüber einer Aktion polemisiert, deren Zielsetzung praktisch eins zu eins von "uns" übernommen sein könnte.

Arne Hoffmann: Vor welchen Fehlern würdest du die Männerbewegung warnen?

Simon Gunkel: Ich glaube, dass es drei große Fehler gibt, die die Männerbewegung machen könnte:

- Ignoranz gegenüber der Geschichte von Feminismus, Schwulenbewegung, aber auch Friedensbewegung und Arbeiterbewegung. Die Männerbewegung ist ein relativ junger Spross in einer Gruppe von Bewegungen, die Geschlecht thematisiert haben. Die letzten beiden benötigen vielleicht noch eine Erklärung: Die Friedensbewegung speiste sich unter anderem aus der berechtigten Angst junger Männer, zum Kriegsdienst gegen das jeweils andere Deutschland eingezogen zu werden. Auch wenn Geschlecht in diesem Kontext nie das präsente Thema war, eigentlich ging es darum, Männer vor einem frühen Tod zu bewahren. Die Arbeiterbewegung war ebenfalls in vielen Punkten eine Männerbewegung, z.B. was Sicherheitsauflagen angeht. Wenn die Berufe mit der größten Gefährdung für Leib und Leben der Arbeiter fast ausschließlich von Männern ausgeführt werden, dann ist Arbeitssicherheit eben auch ein wichtiges Thema für die Männerbewegung. Wichtig ist zu erkennen, dass die Männerbewegung an solche Traditionen anknüpft und deshalb auch versuchen sollte zu erkennen, wo diese Bewegungen Fehler gemacht haben.

- Der zweite Fehler ist so einer, und zwar der grundlegende Denkfehler, die Beseitigung von Nachteilen für Männer führe zu einer Zunahme der Nachteile bei Frauen. Das ist ein fundamentaler Irrtum gewesen, den einige feministische Strömungen bis heute begehen, und er stünde auch der Männerbewegung nicht gut zu Gesicht.

- Der letzte Fehler in dieser Reihe wäre das Fehlen von Versuchen, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, letztlich eine Konsequenz aus den ersten beiden Fehlern, einmal durch mangelndes Verständnis dafür, dass andere Gruppen ähnlich gelagerte Ziele verfolgen und einmal durch das Antagonisieren von solchen Gruppen.

Ich hoffe, dass diese Fehler nicht gemacht werden, oder sich zumindest nur in einem kleinen Rahmen ausbreiten.

Arne Hoffmann: Welche zukünftigen Entwicklungen würdest du dir wünschen?

Simon Gunkel: Ich würde mir vor allem eine größere Präsenz wünschen, also dass die Themen der Männerbewegung tatsächlich in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Was ich mir ebenfalls wünschen würde, wäre eine Erweiterung unserer Themen um die Frage, wie man ein Leben organisieren kann. Ich habe das Gefühl, dass Männer sich mehr oder weniger einem Nutzen unterordnen und sich primär daran messen, ob sie "funktionieren". Das ist etwas, was mir mehr und mehr auffällt, also dass man z.B. in den Vordergrund stellt, ob man in einer Beziehung "funktioniert" und nicht, ob sie einen glücklich macht, dass man sich fragt, ob man im Beruf "funktioniert" und nicht, ob man an ihm vielleicht irgendwann zerbricht. Ich glaube, die Bereitschaft, nicht mehr zu funktionieren, geht der tatsächlichen Befreiung voraus. Allein rechtliche Änderungen werden nicht viel ausrichten. Ich bin mir bewusst, dass das einige als "Umerziehung" o.ä. deklarieren würden, aber es geht eigentlich nur um das Angebot an Männer, sich darüber Gedanken zu machen, was sie eigentlich wollen.

Arne Hoffmann: Viele Bestrebungen von z.B. MANNdat erachtest du als positiv, bist aber kein Mitglied. Warum eigentlich nicht?

Simon Gunkel: Ich hatte mit Eugen Maus einen längeren Mailwechsel, in dem es im Prinzip um diese Frage ging. Ein Punkt, der gegen eine Mitgliedschaft spricht ist, dass viele Themen, die für mich zentral sind, bei MANNdat keine hohe Priorität haben, einfach aus dem Grund, dass dort nicht genug Leute mitwirken. Und nach längerer Diskussion sind wir uns im Prinzip darüber einig, dass diese Themen bei MANNdat einzubringen nicht von mir allein geleistet werden könnte und daher meine Teilnahme an dem Projekt letzten Endes für andere Bereiche notwendige Arbeitskraft abziehen würde. Das Mindeste wäre eine Diskussion innerhalb von MANNdat, ob eine Ausarbeitung zu einem bestimmten Themenfeld von allen Mitgliedern getragen würde. Der zweite Punkt war die Frage, wie stark mit anderen Gruppierungen kooperiert werden soll, und da waren Eugen und ich uns zumindest zum damaligen Zeitpunkt sehr uneins.

Zu guter Letzt kommt noch eine Frage zu meiner Person mit ins Spiel. Ich bin nicht dafür bekannt, unbedingt Konsenspositionen wiederzugeben. Ich wäre kein guter Parteipolitiker, sondern eher die Person, von deren jüngster Äußerung sich ein Fraktionsvorsitzender bei einer Pressekonferenz distanziert. Kein Mitglied zu sein bedeutet, dass MANNdat nicht ständig erklären muss, dass nicht jede meiner Äußerungen zum Programm von MANNdat gehört und auf der anderen Seite auch, dass ich mich nicht zurückhalten muss, was meine Positionen betrifft. Wenn MANNdat mich für irgendetwas brauchen würde, stünde ich bereit, von der Recherche bis zur Flugblattverteilung.

Arne Hoffmann: Was hältst du von Gender Mainstreaming?

Simon Gunkel: Prinzipiell begrüße ich die Idee, Geschlechterpolitik nicht als separat von anderen Politikfeldern zu begreifen. Wer über die Sozialsysteme nachdenkt, der muss sich auch darüber Gedanken machen, ob man den Zivildienst nicht abschaffen sollte und wie die Leistungen, die jetzt von Zivildienstleistenden erbracht werden, dann geregelt werden.

Wer über Gesundheitspolitik nachdenkt, der muss auch darüber nachdenken, ob die bestehenden Differenzen zwischen den Leistungskatalogen für Männer und Frauen Sinn machen. Die zentrale Frage ist nicht, ob man GM begrüßt, weil diese Idee in ihren Grundsätzen absolut konsensfähig sein dürfte, sondern ob man die Geschlechterpolitik gut findet, die jetzt breiten Einzug in alle Sparten und Ebenen der politischen Diskussion findet. Und da werden im Prinzip Konzepte weitergeführt, die ich für unsinnig halte. Ein zweiter zu prüfender Punkt betrifft das Instrumentarium, mit dem GM implementiert wird. Als Beispiel wäre nur gender budgeting genannt, das die Haushalte auf allen Ebenen auf die Geschlechterverteilung von Geldern überprüft. Da sehe ich zum einen die Gefahr, dass Effizienz bestraft wird, d.h. ein Land, das bei gleicher Dienstleistungsgüte eine geringere Menge Geld aufwendet, um eine primär von einem Geschlecht genutzte Einrichtung zu betreiben, könnte schlechter dastehen als ein Land, das weniger effizient wirtschaftet. Und beim Budget des Bundes wäre z.B. zu fragen, ob die Kosten der Wehrpflicht als Gelder gewertet werden, die Männern "zugutekommen". Das Problem ist also nicht der grobe Ansatz, sondern die damit betriebene Politik. Die Frage, ob GM positiv oder negativ ist, ist ähnlich wie die Frage, ob Sozialpolitik etwas Positives oder Negatives ist. Beantwortet werden kann nur, ob eine bestimmte Sozialpolitik oder eine bestimmte Geschlechterpolitik positiv oder negativ ist.

Arne Hoffmann: Inwiefern hast du dich bereits in Sachen Männerbewegung eingesetzt?

Simon Gunkel: Mein Engagement besteht bislang hauptsächlich darin, Kontakte herzustellen und bei möglichst vielen Gruppen nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu bestimmten Themen zu suchen. Für viele der Projekte die ich als notwendig betrachte, fehlt mir einfach die Qualifikation - ohne eine Ausbildung im Bereich Pädagogik fällt Jugendarbeit flach, ohne Ausbildung im Bereich Sozialarbeit oder Psychologie kann ich keine Opferarbeit leisten, ohne Ausbildung in Jura habe ich keine Ahnung, wie man Gesetze umformulieren müsste, um bestimmte Effekte zu erreichen. Meine Qualifikation ist die eines Lebenswissenschaftlers (also life-sciences, wozu ja u.a. die Paläontologie gehört), und ich habe mich intensiv mit Geschlechterstudien befasst. Wenn ich diese Bereiche betrachte, dann stelle ich fest, dass ich vor allem konzeptionelle Arbeit leisten kann. Zum einen kann ich die immer wieder aufkommenden biologistischen Tendenzen auf der Ebene der Biologie kritisieren, zum anderen kann ich versuchen, Denkmuster anzubieten, die eventuell von Nutzen sind. Vielleicht ist das der zentralste Aspekt: Wenn es eine Männerbewegung gibt, dann bewegt sie sich in eine Richtung. Und zu fragen, welche Richtung es sein soll, das sehe ich als meine Aufgabe (wichtig: zu fragen. Ich würde mich nicht als jemanden betrachten, der diese Richtung auswählt).

Arne Hoffmann: Unter anderem bist du Experte zum Thema Beschneidung, die hierzulande in der breiten Öffentlichkeit nur als "Beschneidung von Mädchen" diskutiert wird. Was kannst du zu diesem Thema sagen?

Simon Gunkel: Na ja, Experte ... Ich glaube, es gibt eine Menge Leute, die zu diesem Thema besser qualifiziert sind als ich. Das, was ich zu diesem Thema weiß, kann sich jeder, der über einen Internetzugang und eine öffentliche Bibliothek in der Nähe verfügt, ebenso aneignen. An das Thema geraten bin ich durch die Genitalverstümmelung an Intersexuellen, also Personen, die bei der Geburt als "uneindeutigen Geschlechts" betrachtet werden. Diese werden in Deutschland noch immer durchgeführt, obwohl es keinerlei triftige Gründe für sie gibt. Ebenfalls wenig von der Öffentlichkeit wahrgenommen sind Genitalverstümmelungen an Jungen, einfach weil sie in unserem Kulturkreis "normal" sind und die hier üblichen Beschneidungsformen zu den milderen gehören. Die Beschneidung von Mädchen wird hauptsächlich an den extremsten Formen, also z.B. der Infibulation diskutiert, bei der Beschneidung von Jungen eher die Entfernung von Teilen der Vorhaut, mit gegebener Indikation (z.B. Phimose) und durch Ärzte. Dass andere Formen der Genitalverstümmelung an Jungen praktiziert werden, ist kaum bekannt, was weniger daran liegen dürfte, dass das bewusst verschwiegen wird, sondern eher daran, dass jeder glaubt zu wissen, wie eine Beschneidung bei Jungen aussieht.

Arne Hoffmann: Warum, glaubst du, wird gerade in manchen feministischen Kreisen so extrem aggressiv auf Männer reagiert, die über ihre Opfererfahrungen sprechen? Es kommt da ja regelmäßig zu massiven Abwertungen wie "Jammerlappen" oder "Plärrer" ...

Simon Gunkel: Ich denke, dass da zwei Dinge eine Rolle spielen. Zum einen ist da die Angst, dass solche Opfererfahrungen dazu verwendet werden, Unrecht, das Frauen geschieht, zu marginalisieren. Ich glaube, diese Angst ist auch berechtigt, weil ich Diskussionen erlebt habe, in denen Opfererfahrungen quasi gegeneinander aufgerechnet wurden. Und das Phänomen, dass die Opfererfahrungen der Angehörigen eines Geschlechts negiert werden, weil den Opfererfahrungen des anderen Priorität eingeräumt wird – das ist der Status Quo. Insofern muss man da so vorgehen, dass man diese Angst minimiert und sich auch dieser Form der Diskussion entzieht. Und gerade in diesem Punkt wäre eine Kooperation mit anderen Organisationen sehr sinnvoll, einfach um zu zeigen: Es geht nicht darum, die Opfer gegeneinander auszuspielen.

Ein zweiter Punkt, der meiner Einschätzung nach aber rückläufig ist, ist ein personalisierter Patriarchatsbegriff. Da wird davon ausgegangen, dass jeder Mann a priori eine Machtposition innehat. Wenn man glaubt, dass sich da jemand beschwert, der eigentlich die ganze gesellschaftliche Macht hat und dem die Welt zu Füßen liegt, dann kommt man zu dem Schluss, dass dieser Mensch wehleidig ist. Aber so ein Begriff bringt Widersprüche mit sich, weil Macht nie allein auf einer Geschlechterebene läuft und andere Faktoren wie Alter, Ethnie, Klasse etc. ebenfalls mit hineinspielen. Und ich glaube, dass diese Widersprüche zunehmend erkannt werden.

Arne Hoffmann: Du vertrittst ja die These, dass Mitleid "gegendert", also geschlechtsgebunden sei. Um einen deiner Texte zu zitieren: "Die Presse inszeniert immer wieder aufs Neue die Geschichte von der Lady in peril. Wir sind darauf konditioniert, dieses Leid konkreter wahrzunehmen als bei Männern. Eine Frau kniet weinend neben der Leiche ihres Mannes – die arme Frau. Ein Mann kniet weinend neben der Leiche seiner Frau – die arme Frau." Kannst du das noch ein bisschen ausführen?

Simon Gunkel: Um mal Daten von heute zu nehmen: Auf den Startseiten der Hilfsorganisationen DRK, Brot für die Welt, Ärzte ohne Grenzen und Misereor werden insgesamt 48 Personen abgebildet, die Hilfe benötigen oder bekommen. Davon sind acht Prozent Männer (4), 35 Prozent kleine Kinder (17) und 56 Prozent Frauen (27).

Ich glaube, der Grund dafür ist eine Art selbsterfüllender Prophezeiung. All diese Organisationen werben für Spenden. Und die Leute sind eher bereit zu spenden, wenn sie hilfsbedürftige Frauen sehen. Aus diesem Grund werden bei Plakataktionen, Broschüren oder eben Internetauftritten von Hilfsorganisationen vor allem Frauen gezeigt. Mit dem Effekt, dass das Leid von Frauen stärker wahrgenommen wird als das von Männern und daher die Leute eher bereit sind zu spenden, wenn es gilt, das Leid von Frauen zu lindern ... Damit schließt sich der Kreis.

Ein ähnlicher Effekt betrifft Gewalterfahrungen, die der Feminismus zuerst thematisiert hat. Häusliche Gewalt ebenso wie sexuelle Gewalt waren im Grunde ein Non-Thema, bevor sie durch den Feminismus zu einem gemacht wurden. Dass diese Gewalt auch Männer trifft, wurde zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich realisiert, und im Laufe der Zeit hat das den Effekt gehabt, dass diese Gewaltformen als etwas gesehen wurden, was ausschließlich Frauen betrifft. Im Bereich der sexuellen Gewalt schlug sich das auch im Strafrecht nieder, das hier unterschiedliche Rechtsnormen setzte. Erst seit 1996 erkennt das Strafrecht männliche Vergewaltigungsopfer. Die WHO veröffentlichte jüngst Zahlen, nach denen zwischen fünf und zehn Prozent der Männer sexuelle Missbrauchserfahrungen erlebt haben. Die Gesamtviktimisierungsrate bei sexueller Gewalt schwankt je nach Land, für das Daten vorliegen, zwischen 3,6 Prozent und 20 Prozent, die Pilotstudie "Gewalt gegen Männer" kommt ebenfalls zu Zahlen in dieser Größenordnung. Die Vergleichswerte für Frauen liegen zwischen 0,8 Prozent und acht Prozent.

Die Gründe, warum diese Erfahrungen nicht besonders beachtet werden, liegt meiner Meinung nach vor allem an zwei Faktoren. Der erste wurde schon angesprochen bei der Frage, warum Männer mit Opfererfahrungen oft auf Ablehnung stoßen. Der zweite Punkt betrifft andere Männer, die sich mit den Opfern dieser Gewaltformen nicht solidarisieren, sondern eher auf Distanz gehen. Letzten Endes bedeuten sowohl Gewalt in einer Partnerschaft als auch sexualisierte Gewalt einen Kontrollverlust. Und es ist schwer, sich mit jemandem zu identifizieren, der die Kontrolle über das eigene Leben in einer solchen Situation verloren hat, weil Identifikation auch bedeutet anzuerkennen, dass man selbst zum Opfer werden könnte. Es ist ein Schutzmechanismus, der bei Männern noch stärker greift als bei Frauen, weil es eben ein traditionelles Zeichen für Männlichkeit ist, diese Kontrolle zu haben. Das Ganze ist aber ein sehr weites Feld, über das man wirklich Bücher schreiben kann.

kostenloser Counter